Charlie Marlow, der Protagonist in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, hätte wahrscheinlich mit Albrecht Zauners Betonskulptur „Primerose“, die unübersehbar im Rondell vor dem Künstlerhaus steht, seine wahre Freude gehabt, denn war es nicht er, der nie in eine Unmenge Rot, in einen Haufen Blau, in einen Flecken Orange, in einen Tupfen Lila wollte, nein dahin wollte er nie, er wollte immer ins Gelbe: Direkt in die Mitte. Dort war der Fluß – faszinierend – tödlich – wie eine Schlange. Ich wollte ins Gelbe
Lassen Sie mich eine Anekdote zum Besten geben: Es war eine dieser legendären Zigarettenpausen, die Albrecht und ich uns beim Aufbau seiner Ausstellung hin und wieder gönnten. Wir standen vor dem Eingang zum Künstlerhaus, blicken gemeinsam auf die Primerose und deren Umfeld und freuten uns an ihrem Dasein. Rechts der Betonplastik trotzte ein kleines Schneehäufchen dem jetzt wieder warmen Wetter. Ich wusste, dass diese armselige Anhäufung das Überbleibsel eines Schneemannes war, den ein Kind am Tag nach der Nacht des großen Schneefalls baute.
Ich sah zu Albrecht und sagte: „Verdichtung hat länger Bestand als alles andere …“. Er lächelte mich an, „ja Verdichtung hat Bestand“.
Albrecht Zauner ist in gewisser Weise ein Gotiker, oder etwas koketter mit Peter Handke formuliert, er gehe deshalb so gerne bergauf, da die Seele immer nach oben strebe, himmelwärts. Ist nicht die Primerose, in unseren Breiten landläufig auch als Himmelschlüssel bezeichnet, eine jener Pflanzenarten, die als himmelöffnende Frühlingsblume gilt? Selbst Johann Sebastian Bach räumte dieser Blume in seiner mächtigen Johannes-Passion einen besonderen Platz ein: Dein höchstes Gut in Jesu Schmerzen, Wie dir auf Dornen, so ihn stechen, Die Himmelschlüsselblumen blühn! Du kannst viel süße Frucht von seiner Wermut brechen …
Und glauben wir den Sagen, dann ist diese Blume, wenn sie gelb ist, eine Schlüsselblume, auch der Schlüssel zu unsichtbaren Pforten aus Erz und Stein.
Albrecht Zauner hat nicht nur eine Affinität zum Originalgelb des Jaguar E-Type, auch zu diversen Psalmen, einige seiner Arbeiten tragen den schlichten Titel wie PS 30 oder PS 91, also Psalm 31, Psalm 91, auch die zu Johannes dem Evangelisten ist nicht von ungefähr, wird diesem auch der Text zur „Geheimen Offenbarung“, die er angeblich auf der Insel Patmos verfasst haben soll, zugeschrieben. Patmos als Sehnsuchtsort. Die „Apokalypse“ als Ideenpool. „Kalypso“ bedeutet im griechischen Schleier und „apo“ nichts anderes als „wegnehmen“. Man lüftet also den Schleier, um das darunter Verborgene sichtbar zu machen. Ist nicht auch ein wesentliches Merkmal von Kunst das gelungene Sichtbarmachen des Unsichtbaren?
Zauner ist aber auch deshalb ein Gotiker, da er zur richtigen Zeit und zum richtigen Augenblick die Kurve kratzt. Lassen Sie mich das kurz ausführen. Allen Marienfiguren des sogenannten „Weichen Stil“, einer Kunstrichtung der Gotik aus der Zeit um 1400, ist eine zarte, kaum ausmachbare „S-Kurve“ gemein – ihr Stand, mit dem Jesusknaben in ihren Händen, ist also einer leicht angedeuteten „S-Kurve“ vergleichbar. Natürlich sind Zauners Primerose oder auch die Skulptur „Sein“ (Mellauer Kieselkalk, 2024) auch Derivate aus Zauners elementarer Skulptur „Windhauch“ von 2010, die zum ersten Mal in der Villa Falkenhorst präsentiert wurde. Das Wort „Windhauch“ hat seinen Ursprung in einem Zitat aus dem Buch Kohelet: Nur Windhauch sind die Menschen, nur Trug die Menschenkinder. Sie schnellen empor auf der Waage, leichter als Windhauch sind sie alle.
Das hebräische Wort „häbäl“, in dem übrigens auch der Name „Abel“ steckt, im Deutschen angemessen wiederzugeben, ist nicht so einfach. Wörtlich übersetzt bedeutet es „vergänglicher Hauch“, „Windhauch“, „Nichtigkeit“. Der Wind weht, du spürst seinen Hauch, aber dabb ist er vorbei und hinterlässt nichts Bleibendes. Also es gibt nichts, woran der Mensch sich halten kann, weil alles so flüchtig und ungreifbar ist, wie der Wind.
Albrecht Zauner ist ein Grafiker unter den Bildhauern. Ein Skizzierer, die Gegensätzlichkeit von An- und Entspannung interessiert ihn. Zauner spürt dem Quantum Mensch nach, er sucht den drastischen Akzent, die naturalistische Wiedergabe, deren Akribie und Perfektion überlässt er getrost anderen. Er spürt dem Phänomen Mensch nach, nach dessen Kern, dem inneren Ausgangspunkt aller Triebe, nach der Feder aller unwillkürlichen Akte und zwangsläufig nach dem menschlichen Sein. Er sucht die Vollkommenheit im Unausweichlichen, die Verdichtung, die Geborgenheit, die Gekrümmtheit, die Gewundenheit durch die innere Unruh.
Das ist programmatisch, charakteristisch für die Bleistiftzeichnungen Zauners und das macht ihn zu einem hervorragenden Bildhauer. Humanität nicht nur als Parole, sondern als Bewusstsein ihrer Gefährdung. Es fasziniert an ihnen dieses unsterbliche Spiel von Licht und Schatten, von Höhen und Tiefen, von Distanzen und sich gegenseitig respektierenden Falten und eingeschnittenen Konturen. Etwas Drohendes und Ahnendes zugleich, eine Verheißung?, die man aber nur fühlt und nicht begreifen kann und sie strömt einem entgegen.
Jeder Bleistiftstrich ein Treffer, jeder Guss ein Statement, jede Meißelschramme ein Postulat. Der Stein verzeiht keine Fehler. Der Stein verlangt höchste Konzentration und Anspannung, ein unbestechliches Auge und er fordert ein „absolutes Gehör“, um seine stumme Sprache zu verstehen. „Wenn man diese nicht erreicht, erreicht man überhaupt nichts!“, so Vorarlbergs Bildhauerdoyen Herbert Albrecht.
Es war uns leider nicht vergönnt, obwohl beim Aufbau der großen Plastik Primerose nahezu ein halber Meter hoch Schnee lag. Man stelle sich vor, ein Sturm fegt übers Land, Schneegestöber, so dicht, ungezähmt und wild, dass man seine Hand vor Augen nicht mehr sehen kann, und dann taucht plötzlich aus dem Whiteout eine vier Tonnen schwere Betonplastik im zarten Primerosegelb eines Jaguar E-Type auf …
Wie schrieb mir einmal Elisabeth Kunze, die Frau des Dichters Reiner Kunze: Möge auch für Sie eine Rose erblühen mitten im Winter …
Möge für uns alle eine „primula veris“ erblühen – mitten im Winter. Die Kunst von Albrecht Zauner macht es möglich, oder um es mit einem Lieblingspsalm von Albrecht Zauner zu sagen: „Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt“.
© Thomas Schiretz
29.11.2024 Vernissagerede für Albrecht Zauner
im Künstlerhaus Palais Thurn & Taxis